Nikolaj Denkov im Interview

Nikolaj Denkov ist Premierminister von Bulgarien und sieht Österreich als „Schlüsselpartner“ für den boomenden Hightech-Sektor in Bulgarien. Darüber hinaus bieten die grüne Transformation und der damit einhergehende Infrastrukturwandel neue Investitionschancen.

Österreich ist einer der wichtigsten Investoren in Bulgarien. Wie schätzen Sie die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen aktuell ein?

Nikolaj Denkov: Österreich und Bulgarien haben eine sehr gut entwickelte Beziehung, aber mit einem großen Schatten – dem Schatten des Schengen-Vetos. Nach den Niederlanden ist Österreich der zweitgrößte Investor in Bulgarien. Die grоßen österreichischen Unternehmen aus verschiedenen Sektoren, wie Telekommunikation und Konsumgüterindustrie, sind in Bulgarien führend. Bulgarien exportiert seinerseits zahlreiche Waren nach Österreich, die für einige der Sektoren dort von großer Bedeutung sind. Die Hindernisse an den Landesgrenzen verteuern jedoch den Warentransport von Bulgarien über Rumänien und Ungarn nach Österreich, und das ist ein Problem, das gelöst werden muss, denn die Preiserhöhung geht zulasten der österreichischen Bürger. Aufgrund des Vetos hat sich hier und da eine negative Einstellung gegenüber österreichischen Unternehmen und Waren eingestellt. Bisher handelt es sich um einzelne Kommentare, und ich bin sicher, dass sie sofort aufhören würden, wenn das Veto fällt.

Was sind generell die wichtigsten wirtschaftspolitischen Pläne Ihrer Regierung?

Denkov: Am wichtigsten ist der Übergang von einer Wirtschaft mit niedrigen Löhnen zu einer Wirtschaft mit hoher Mehrwertschöpfung. Dies erfordert Investitionen sowohl in modernere Maschinen und Investitionsgüter als auch in eine bessere allgemeine, berufliche und höhere Bildung. Der grüne Übergang ist ebenfalls von zentraler Bedeutung und erfordert eine tiefgreifende Umgestaltung mehrerer Wirtschaftsregionen. Die Entwicklung des IT-Sektors in unserem Land hat bereits beachtliche Erfolge vorzuweisen. Eines der führenden europäischen Entwicklungsinstitute auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz, das Institut für Informatik, künstliche Intelligenz und Technologie INSAIT, ist in Bulgarien tätig und entwickelt sich weiter. Wir haben den Anspruch, diesen Vorteil zu nutzen und noch weiter auszuweiten, indem wir aufkommende Nischen in der Hightech-Technologie besetzen. Österreich kann in diesem Prozess eine Hauptrolle als Schlüsselpartner spielen – nicht nur als wichtiger ausländischer Investor, sondern auch als Land, in dem ein Drittel der bulgarischen Studenten in Europa ausgebildet wird und in dem über 40.000 bulgarische Staatsbürger leben und arbeiten.

In welchen Bereichen sehen Sie in Bulgarien die größten Wachstumsfelder für ausländische Direktinvestitionen und welche Rolle spielen dabei Energiewende und grüne Transformation?

Denkov: Infrastruktur, Transport und Energie sind die drei Bereiche, in denen wir in den kommenden Jahren die größten Investitionen erwarten. In Ergänzung zur Hemus- Autobahn in Nordbulgarien und zur Struma- Autobahn nach Griechenland, die bereits in Bau sind, aber noch nicht fertiggestellt wurden, planen wir wichtige neue Infrastrukturverbindungen mit Griechenland und Rumänien. Dazu gehören der Ausbau des Schienen- und Straßenverkehrs, eine Erdölpipeline und eine Pipeline für Erdölprodukte, digitale Autobahnen zur Verbindung der Häfen am griechischen Mittelmeer mit den bulgarischen Häfen am Schwarzen Meer und an der Donau und von dort aus nach Rumänien und dann mit möglichen Erweiterungen nach Moldawien, in die Ukraine, und warum nicht auch nach Ungarn und Österreich? Dabei handelt es sich um Großinvestitionen, die in den kommenden Jahren durchgeführt werden sollen und Investitionen in Milliardenhöhe erfordern werden. Deshalb verhandeln und diskutieren wir mit renommierten Institutionen wie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und der Europäischen Investitionsbank, wie die Projekte vorbereitet werden können. Aber auch für ausländische private Partner und Investoren wird es genügend Möglichkeiten geben, sich zu beteiligen. Im Energiesektor wird der Wandel in unserem „Kohlental“ in der Region Stara Zagora besonders gravierend sein. Sie soll zu einer der am weitesten entwickelten Hightech-Industriezonen auf der Balkanhalbinsel mit einer entwickelten Wasserstoffwirtschaft werden. Stara Zagora hat eine Schlüsselposition – es liegt in der Nähe von zwei Autobahnen, in der Nähe von Griechenland und der Türkei, auf dem Weg von diesen Ländern nach Rumänien. Die Stadt verfügt bereits über eine voll entwickelte Infrastruktur, gut ausgebildetes Personal und ein hochwertiges Universitätssystem. Dank dieser Faktoren und mit den richtigen Projekten und Investitionen können wir diese Region in den kommenden Jahren in ein modernes Hightech- Industriegebiet verwandeln. Für diesen Übergang sind sowohl im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität als auch im Rahmen der Pläne für den gerechten Übergang vorgesehen. Der entscheidende Faktor werden jedoch Investitionen ausländischer Privatunternehmen sein. Ein funktionierendes Beispiel dafür haben wir bereits in der Region um Plovdiv: Dort gibt es ein sehr gut entwickeltes Industriegebiet namens Trakia. Über 300 ausländische Unternehmen sind dort tätig. Und dieses Beispiel kann nicht nur wiederholt werden, sondern sogar als Möglichkeit in der Region Stara Zagora ausgebaut werden. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um österreichische Investoren einzuladen, sich an diesem Prozess ebenfalls zu beteiligen.

Der Ukrainekrieg hat geopolitische Machtverschiebungen in der Welt beschleunigt. Wie sehen Sie die globale Rolle Europas und wie sollte sich Europa positionieren?

Denkov: Erstens muss Europa in seiner Zuversicht geeint sein, dass es sich aus den ausländischen Bindungen lösen und sich als gleichberechtigter Partner und gegebenenfalls Konkurrent der großen geopolitischen Zentren etablieren kann. Dies erfordert den Aufbau einer Reihe von Strukturen und Institutionen auf gesamteuropäischer Ebene, um wettbewerbsfähig zu sein. Dieser Prozess erfordert Zeit und Ressourcen, ist aber absolut notwendig, wenn wir die Zukunft des Kontinents als würdiger und bevorzugter Ort zum Leben in den kommenden Jahrzehnten sichern wollen. Die neuen Konflikte haben gezeigt, dass Zeit vielleicht das größte Kapital für diesen Wandel ist. Wir müssen uns daher gemeinsam realistische Ziele setzen und diese in den nächsten Jahren erreichen. Das Gespräch über die strategische Entwicklung Europas, das derzeit auf verschiedenen Ebenen, auch auf höchster Ebene, im Europäischen Rat, geführt wird, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Ich bin überzeugt, dass wir dabei die richtigen Ziele und Aufgaben definieren werden, auf die wir uns einigen und bereits im nächsten Jahr mit der Umsetzung dieser Ziele beginnen können.

Nikolaj Denkov von der bulgarischen Partei PP ist seit 6. Juni 2023 Premierminister von Bulgarien. Der promovierte Chemiker war zuvor Bildungsminister.