Wege aus der Arbeitskräftekrise

Österreichs Unternehmen finden nicht mehr ausreichend Mitarbeiter und das Problem wird sich noch ausweiten – wie jetzt alle Register gezogen werden können.Von ungehobenen Leistungspotenzialen bis zum Recruiting im Ausland

Der Arbeitskräftemangel wird sich in Europa und Österreich in den kommenden Jahren zur größten Herausforderung der Wirtschaft entwickeln. „Wenn die aktuelle Energiekrise und der Krieg überwunden sind und Unternehmen wieder mit voller Kraft durchstarten, wird es genau daran fehlen: den Arbeitskräften, die den Aufschwung gestalten – jene, die Anlagen für die Energiewende bauen, die Digitalisierung vorantreiben und Europas Potenzial in Schlüsseltechnologien nutzen, aber auch jene, die das Brot backen, die Ernte einholen, Alte und Kranke versorgen und Kinder und Jugendliche ausbilden“, sagt IV-Präsident Georg Knill.

Die Gesundheitsbranche klagt über einen Mangel in fast allen Berufsfeldern, aber schon jetzt fehlt es nicht mehr nur an hoch qualifizierten Fachkräften. Spätestens in der Urlaubssaison wird wieder deutlich, wie viel Personal in Hotels, Restaurants und am Flughafen fehlt. Verkehrsbetreiber verringern bereits die Frequenzen von Straßenbahn, Zug und Bus. Nicht zuletzt gehen Österreich die Lehrkräfte aus. Unternehmen werben längst deutlich sichtbar im öffentlichen Raum um Mitarbeiter und Lehrlinge: über Plakatkampagnen, TV-Spots – und die Bundesbahnen nun sogar mit einem vollständig gebrandeten Railjet.

In Oberösterreich und Salzburg kam im November rein rechnerisch weniger als ein Arbeitsloser auf eine offene Stelle. In ganz Österreich lag die Zahl der beim AMS gemeldeten offenen Stellen im Dezember bei 109.797 – nicht berücksichtigt sind dabei jene Stellen, die nicht beim AMS gemeldet werden. Experten schätzen, dass insgesamt mehr als 250.000 Jobs bei Unternehmen in Österreich unbesetzt sind. Dem stehen im Jänner 317.114 Menschen, die arbeitslos und auf Jobsuche sind, gegenüber. Während die Zahl der offenen Stellen im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist, sind immer weniger Menschen auf Jobsuche.

Die Bevölkerung schrumpft

Warum in Österreich und ganz Europa der Arbeitskräftemangel akut ist, hat verschiedene Gründe. Einerseits schrumpft in ganz Europa die Bevölkerung: Die erwerbsfähige Population ist laut Eurostat seit Ende 2019 um 0,7 Prozent gesunken; die Altersgruppe 25–54 ist im selben Zeitraum sogar um 1,8 Prozent geschrumpft. In Österreich gibt es immer weniger 15-Jährige und damit weniger Menschen im klassischen Alter von Lehranfängern, gleichzeitig wächst die Gruppe der Österreicher im Regelpensionsalter – und der Höhepunkt ist dabei noch nicht erreicht, denn die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer sind derzeit 50 bis 60 Jahre alt. Den Zenit der aktuellen Pensionierungswelle dürften wir wohl erst Ende des Jahrzehnts erleben.

Einen weiteren Grund, warum der Arbeitskräftemangel im Lauf des vergangenen Jahrs so akut geworden ist, sehen Experten darin, dass die Pandemie die Binnenmigration in Europa eingeschränkt hat. Viele Arbeitskräfte aus Mittel- und Osteuropa, die in Österreich Menschen gepflegt, Felder abgeerntet oder in Restaurants und Hotels geholfen haben, sind in der Pandemie in ihre Heimatländer zurückgekehrt – und nicht wiedergekommen, auch, weil sie daheim ebenso gebraucht werden. Migration aus Drittländern erfolgt in Österreich derzeit nur wenig gesteuert. Jene Menschen, die als Asylwerber nach Österreich kommen, könnten den demografischen Wandel sogar zum Teil ausgleichen – laut Jahresstatistik des BMI für 2021 waren fast 60 Prozent der Antragsteller zwischen 18 und 35 Jahre alt und nur 0,2 Prozent über 65.

Am Arbeitsmarkt wird das aber auch mittelfristig keine Auswirkungen haben: Laut Integrationsfonds sinkt der Bildungsstand von Asyl- und subsidiär Schutzberechtigten in Österreich. 70 Prozent der Menschen, die 2022 in Österreich Asyl erhalten haben und Deutschkurse nach dem Integrationsgesetz in Anspruch nehmen, können nicht lesen und schreiben, die Hälfte beherrschte das lateinische Alphabet nicht. Die andere Hälfte ist jedoch selbst in der eigenen Muttersprache nicht alphabetisiert, was das Deutschlernen deutlich erschwert. Bis Oktober wurde 2022 in Österreich 15.509 Menschen Asyl gewährt; in diesen ersten zehn Monaten des Jahres wurden 90.000 Asylanträge gestellt.

Fachkräfte aus Kolumbien

Demgegenüber ist die qualifizierte Zuwanderung aus Drittländern überschaubar: 6182 Rot-Weiß-Rot-Karten wurden 2022 ausgestellt. Diese Zahl scheint niedrig, ist tatsächlich aber nach einer Reform der Karte mit Oktober stark angestiegen – zum Vergleich: 2021 wurden 3881 Rot-Weiß-Rot-Karten ausgestellt. In Zukunft wird diese qualifizierte Zuwanderung in ganz Europa enorm an Bedeutung gewinnen und auch in Österreich gibt es bereits erste Erfolgsbeispiele wie Pflegekräfte aus Kolumbien, die im LKHKlinikum Graz arbeiten. Sie werden noch in ihrem Heimatland ein Jahr lang auf ihren Einsatz in Österreich vorbereitet – organisiert durch eine Wiener Recruitingagentur, die bis Ende 2024 bis zu 600 Fachkräfte nach Österreich holen will.

Unausgeschöpfte Leistungspotenziale

Aber auch innerhalb Österreichs gibt es noch Potenziale zu heben. Laut Eurostat lag das „unausgeschöpfte Arbeitskräftepotenzial“ (labor market slack) der erwerbsfähigen Bevölkerung in Österreich im dritten Quartal 2022 bei 9,7 Prozent – im EU-Schnitt lag es bei 11,5 Prozent. In dieser Statistik werden Arbeitslose, aber auch Personen berücksichtigt, die in Teilzeit arbeiten, aber aufstocken könnten, und jene, die derzeit nicht berufstätig sind, aber auch nicht auf Jobsuche. Das bedeutet: In Österreich könnten noch rund zehn Prozent der maximal möglichen Arbeitskraft mobilisiert werden, und noch mehr, wenn man jene berücksichtigt, die unter den richtigen Umständen auch nach dem Erreichen des Pensionsalters weiterarbeiten würden – wenn die richtigen Register gezogen werden.

Derzeit wird der Leistungswille in Österreich kaum gefördert. Die Arbeitsmarktreform ist im Herbst 2022 nach 15 Monaten Verhandlungen gescheitert – und damit auch eine Reform des Arbeitslosengelds. Kürzlich hat sich die Regierung zwar darauf geeinigt, die geblockte Altersteilzeit abzuschaffen, die de facto einen früheren Pensionsantritt ermöglichte; in Summe scheiden Österreicher im Europavergleich aber viel zu früh aus der Erwerbstätigkeit aus. Der Anteil der 60- bis 64-jährigen Erwerbstätigen ist in Österreich mit 32,2 Prozent deutlich niedriger als etwa in Deutschland, wo in dieser Altersgruppe 62,9 Prozent berufstätig sind. Im EU-Schnitt ist die Erwerbstätigkeit Älterer zuletzt übrigens gestiegen.

Hier liegt also noch einiges ungehobenes Potenzial. Die IV setzt sich daher vehement für steuerliche Anreize ein und sieht einen wichtigen Hebel im Entfall der Beitragspflicht zur Pensionsversicherung nach Erreichen des Regelpensionsalters. „Gleichzeitig gibt es in Österreich viele Menschen, die bereit sind, mehr zu leisten; eine Haltung, die es sich in Zeiten wie diesen lohnen würde, zu fördern“, so IV-Präsident Knill. So mag es manche vielleicht überraschen, dass es in Österreich eine vergleichsweise hohe geleistete Wochenarbeitszeit bei Vollzeitbeschäftigten gibt. Die IV fordert eine Erhöhung der begünstigten Überstunden auf 20 Stunden und eine Verdopplung des Freibetrags für Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit, um diese Bereitschaft, die Extrameile zu gehen, zu belohnen und zu fördern.

Foto: © IV/Quelle: Eurostat

Von Teilzeit auf Vollzeit

Auch wenn die geleistete Wochenarbeitszeit bei Vollzeitbeschäftigten hoch ist, ist Österreich nach wie vor eine Hochburg der Teilzeitbeschäftigung. So gab im dritten Quartal 2022 laut Statistik Austria bereits jede zweite erwerbstätige Frau und jeder achte Mann an, Teilzeit zu arbeiten. Und: Die Zahl der in Teilzeit arbeitenden Menschen ist im Jahresvergleich wesentlich stärker gestiegen als die Zahl der Vollzeit-Erwerbstätigen. Die Gründe dafür sind bekannt: Einerseits zahlt es sich aufgrund der Steuerstufen in Österreich finanziell weniger aus als in anderen Ländern, von Teilzeit auf Vollzeit aufzustocken. Stockt eine 20-Stunden-Kraft ihre Arbeitszeit auf 30 Wochenstunden auf, arbeitet sie um 50 Prozent mehr und verdient auch brutto um die Hälfte mehr – netto bleiben aber laut einer Berechnung von Agenda Austria nur 32 Prozent mehr Lohn übrig. Bei einer Aufstockung auf 40 Stunden, also um 100 Prozent, bleiben netto nur 66 Prozent mehr Lohn. Neben einer weiteren Senkung der Lohnnebenkosten sieht die IV Potenzial in einem steuerlichen Freibetrag, wenn Teilzeitkräfte auf Vollzeit aufstocken.

Andererseits gibt es zu wenige Kinderbetreuungsplätze, die vielen Eltern eine Vollzeitbeschäftigung überhaupt erst ermöglichen würden. Dafür müssen Betreuungsplätze laut dem Vereinbarkeitsindikator für Familie und Beruf (VIF) bestimmte Mindestkriterien erfüllen: ein Angebot in 47 Wochen pro Jahr, von Montag bis Freitag, Öffnungszeiten von mindestens 45 Wochenstunden und an vier Tagen mindestens 9,5 Stunden. Zuletzt ist in Österreich der Anteil an Kindern, die einen Platz in solchen Einrichtungen haben, leicht gesunken, auf nur jedes zweite Kind im Alter von drei bis fünf Jahren und eine noch viel niedrigere Quote bei den Jüngeren. Das ist nicht nur für die Vereinbarkeit eine schlechte Nachricht, sondern auch für die frühkindliche Bildung. Die IV fordert in einem Schulterschluss mit den anderen Sozialpartnern einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung und einheitliche Qualitätskriterien. Beim Ausbau müsse man „ein Stück weit weggehen von einer Kostenlogik, hin zu einer Investitionslogik“, so IV-Vizepräsidentin Sabine Herlitschka. Das bedeute nicht, dass jede einzelne Gemeinde eine Betreuungseinrichtung brauche – auch Bildungszentren, eventuell in Kooperation mit Schulen, könnten eine Lösung sein.

Erfolgsmodell Lehre

Bildung – nicht nur der Jüngsten – ist ein wesentlicher Schlüssel im Kampf gegen einen Arbeits- und Fachkräftemangel, und Österreich hat in diesem Bereich ein sehr wirkungsvolles Werkzeug. Die Lehre gilt weit über die Landesgrenzen hinaus als Erfolgsmodell: Im Jänner besuchte US-Arbeitsminister Martin J. Walsh Österreich und traf im Haus der Industrie mit Vertretern österreichischer Unternehmen zusammen, um sich über Wirksamkeit und kritische Erfolgsfaktoren der dualen Ausbildung zu informieren. Das Modell soll in den USA breiter ausgerollt werden.

In Österreich gab es zuletzt eine deutliche Steigerung der Lehranfängerzahl, aber in Summe herrscht auch hier ein Mangel. Im Durchschnitt waren 2022 ca. 9.700 offene Lehrstellen beim AMS gemeldet, im Dezember standen laut AMS 8.262 sofort verfügbare Lehrstellen 7.218 Lehrstellensuchenden gegenüber. Als Unternehmen müsse man vor allem die Eltern überzeugen, dass diese Ausbildung ihren Kindern alle Karrierewege öffnet und danach auf Wunsch auch ein weiterführendes Studium möglich ist, erklärten die Industriebetriebe beim Treffen mit Walsh. „Wenn es vom Lehrling bis zum Pensionisten gelingt, alle Leistungspotenziale zu heben, an manchen Stellen gezielt gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland zu holen und auch die Digitalisierung voranzutreiben, können wir dem Arbeitskräftemangel etwas entgegensetzen“, so Knill.

Dieser Text erschien als Coverstory im Magazin iv-positionen, Ausgabe Februar 2023.