Mit Sicherheit hat die Europäische Union lange Zeit vor allem wirtschaftliche Sicherheit gemeint. In einer Welt, in der Europa wirtschaftlich und demografisch an Gewicht verliert, gewinnt die Bewertung wirtschaftliche Abhängigkeiten und der Schutz strategisch wichtiger Technologien, Infrastruktur und Unternehmen an Bedeutung. Der Krieg in Europa hat die Bedrohungslage und den strategischen Umgang damit aber neu definiert. Das „sicherheitspolitische Konzept” der EU sah 2021, als der EU-Chefdiplomat Josep Borrell den ersten Entwurf präsentierte, Russland noch als Partner. Wenige Monate später war die Welt eine andere. Borrell sieht eine „Rückkehr der Machtpolitik”, auf die Brüssel auch militärisch vorbereitet sein müsse.
Für das Wie dieser militärischen Vorbereitung ist auf europäischer Ebene seit Mai 2022 ein Österreicher mitverantwortlich. Robert Brieger ist noch bis 2025 Vorsitzender des EU-Militärausschusses und sieht die äußere Sicherheit als Basis: „Die militärische Dimension wird zunehmend wichtiger. Demokratie, wirtschaftliches Wachstum und sozialer Friede können nur bestehen, wenn die äußere Sicherheit gewährleistet ist. Das ist der äußere Schirm, den wir benötigen, um unsere Werteunion, unsere Sozialunion und alle anderen Politikbereiche zu schützen. Ohne Sicherheit funktioniert auch alles andere nicht”, sagt der frühere Generalstabschef Österreichs. In der „Globalen Strategie” der EU-Außen- und Sicherheitspolitik wurde von Europa noch das Bild einer „Soft Power” gezeichnet. Jetzt will die Europäische Union zur Militärmacht werden und bekommt unter anderem eine neue Eingreiftruppe, die bis zu 5.000 Soldaten stark sein soll.
"Demokratie, wirtschaftliches Wachstum und sozialer Friede können nur bestehen, wen die äußere Sicherheit gewährleistet ist."
- Robert Brieger ist der oberste General der EU.
Das ist durchaus ein bemerkenswerter Schritt. Seit 2007 unterhält die EU „Battlegroups” als ständig aktive Kampfverbände mit jeweils 1500 Soldaten. Zum Einsatz kamen sie bisher aber nie. Das soll sich mit dem neuen Konzept der „Rapid Deployment Capacity“ (RDC) ändern – die Truppe soll ab 2025 einsatzbereit sein und im ersten Jahr will Deutschland das Kontingent stellen. Auch Österreich hat angekündigt, sich künftig beteiligen zu wollen. Die Aufgaben der RDC beschreibt Brieger so: „Im Zentrum steht die Reaktionsfähigkeit, wenn es darum geht, Stabilisierungseinsätze, Evakuierungseinsätze, aber auch humanitäre Hilfe oder Friedensdurchsetzung und ähnliche Szenarien außerhalb Europas beherrschen zu können”. Ein großes, gemeinsames Heer sieht der General derzeit nicht: „Ob es eine europäische Armee in irgendeiner ferner Zukunft geben wird, ist meines Erachtens eine Frage des politischen Integrationsprozesses Europas. Wenn Europa zu einem Bundesstaat zusammenwächst, wäre eine eigene Armee dieses Bundesstaates eine logische Konsequenz. Aber davon sind wir weit entfernt”. Das Militärbündnis NATO werde für die Verteidigung Europas auf absehbare Zeit der „relevante Organisationsrahmen” bleiben. 23 EU-Länder sind NATO-Mitglieder – es gehe auch darum, die „europäische Komponente” in diesem Bündnis zu stärken.
Dennoch geht es auch für die EU um mehr als schnelle „Battle Groups”, analysiert der Militärstratege: „Die Europäische Union hat zusammengenommen mehr als eine Million Soldaten und in Summe das drittgrößte Verteidigungsbudget weltweit nach den Vereinigten Staaten und China. Es geht eben darum, diese Dinge auch entsprechend zur Wirkung zu bringen. Das ist die große Herausforderung”. Dafür brauche es nicht nur mehr Mittel. Ganz oben auf der Liste von Brieger steht eine Beschleunigung von Entscheidungsprozessen – das Einstimmigkeitsverfahren würde er gerne zur Diskussion stellen. Die „Zusammenarbeitsfähigkeit” müsse im Zentrum strategischer Überlegungen stehen: „Gemeinsame Verfahren, gemeinsame taktisch-operative Grundsätze und möglichst ein einheitliches Rüstungsmaterial”.
Mit dem Europäisches Investitionsprogramm für Verteidigung hat die EU jüngst ein eigenes Programm zur Ankurbelung der europäischen Rüstungsindustrie auf den Weg gebracht. Angedacht sind Mehrwertsteuerbefreiungen, Zuschüsse und Darlehen. Damit soll eine bessere Abstimmung von Angebot und Nachfrage in der gesamten EU gefördert werden und die Organisation des Marktes auf mehr Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten ausgerichtet werden. 1,5 Milliarden Euro sind für dieses Programm im nächsten Siebenjahreshaushalt der EU für den Zeitraum 2028-2035 vorgesehen. Angesichts dessen, dass die Mitgliedsländer 2022 in Summe 240 Milliarden Euro für die Verteidigung ausgegeben haben, scheint das Volumen des Europäischen Investitionsprogramms für Verteidigung niedrig. Das Geld sei aber auch nicht unmittelbar für den Kauf von Waffensystemen gedacht, erklärt Brieger. Es gehe um Anreize für gemeinsame Projekte. „Insgesamt ist die europäische Rüstungsindustrie stark diversifiziert und über Jahrzehnte vernachlässigt worden. Jetzt ist der große Weckruf fällig. Wir müssen mehr und synergetischer produzieren: weniger Produkte, weniger Typenvielfalt, aber dafür fokussiert auf den Bedarf und größere Stückzahlen und natürlich möglichst modern und state of the art”, sagt der Militärexperte. Das braucht aus seiner Sicht nicht nur Geld, sondern vor allem Zeit: „Wenn das alles funktionieren soll, würde ich sagen, braucht es zehn Jahre”.
Als Brieger sein Amt als Vorsitzender des EU-Militärausschusses in Brüssel antrat, lag der Einmarsch Russlands in der Ukraine gerade einmal drei Monate zurück. Rückblickend bewertet er die Reaktion Europas auf den Angriff durchaus positiv. Die rasche Reaktion sei „bemerkenswert” gewesen. In Summe seien mittlerweile über 80 Milliarden Euro an Hilfsgeldern geflossen, davon 28 Milliarden Euro militärischer Unterstützung, Munitionslieferungen und Ausbildungsmissionen – ergänzt durch 13 Sanktionspakete gegen Russland. Das sei in dieser Schärfe von Russland nicht erwartet worden, so Brieger. Jetzt gehe es darum, die Durchhaltefähigkeit zu erhalten: „Es war ein guter Schritt, dass europäische Mitgliedsstaaten die eigenen Rüstungsgüter in großem Umfang und rasch zur Verfügung gestellt haben. Aber beim Aufsetzen gemeinsamer Initiativen für die Produktion etwa von dringend benötigter Munition gibt es sicher noch Möglichkeiten, die nicht ausgeschöpft wurden. Die Europäische Verteidigungsagentur hat beispielsweise eine Reihe von Verträgen aufgesetzt, über die sich Mitgliedsstaaten zusammenschließen können, um eine raschere und auch kostengünstigere Munitionsproduktion zu realisieren. Davon haben bisher nur sieben Mitgliedsstaaten Gebrauch gemacht”.
Neben Waffen und Munition sieht Brieger in Europa bei einer wesentlichen sicherheitspolitischen Komponente Nachholbedarf: den Nachrichtendiensten. Während er nicht damit rechnet, dass sich der Krieg auf Länder von EU oder NATO ausweiten könnte – dafür seien die Kräfte Russlands zu sehr gebunden und abgenützt – hält er die Bedrohung kritischer Infrastruktur für sehr real. Egal ob es um Brücken, Leitungen oder Daten geht – bei solchen Zwischenfällen ist eine Identifizierung der Angreifer meist schwierig. „Es muss eine entsprechende strategische Nachrichtengewinnung auf europäischer Seite stattfinden, um Entwicklungen in diesen Bereichen einstufen und abschätzen zu können”, so der General.
Nicht zuletzt muss sich Europa auch im militärischen Bereich dem Arbeitskräftemangel stellen: „Alle Investitionen sind vergeblich, wenn es nicht gelingt, die notwendigen Personalfehlstellen zu schließen. Das österreichische Bundesheer ist hier nicht allein mit seinen Sorgen, sondern ich stelle bei vielen europäischen Streitkräften ähnliche Nachwuchsprobleme fest. Ich kann nur alle politischen Entscheidungsträger ersuchen, hier sowohl finanzielle, als auch arbeitstechnische Anreize zu schaffen, um die notwendigen Männer und Frauen in Uniform auch wirklich zur Verfügung zu haben”.
Für Österreich sieht Brieger kein unmittelbares Angriffsszenario, da das Land von Partnerstaaten und NATO-Mitgliedern umgeben ist. Die neue Sicherheitsstrategie Österreichs, die derzeit in Ausarbeitung ist, müsse eng auf die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union abgestimmt sein, bei der Österreich als EU-Mitglied mitwirkt. Insgesamt appelliert der General, die Sicherheitsfrage nicht zu unterschätzen, auch wenn sie gerade mit anderen wichtigen Politikbereichen um Aufmerksamkeit ringt – Inflation, Rezession, Bildung, Gesundheit und Arbeitsmarkt, zählt Brieger auf. „Das sind wichtige Bereiche, zuerst muss aber die Sicherheit gewährleistet sein. Und wenn wir es zulassen, dass in Europa ein souveräner Staat durch ein autokratisches Regime zerstört wird, dann ist das ein Schwächezeichen, das unsere Handlungsfähigkeit für die absehbare Zukunft deutlich herabsetzen wird. Darum geht es”.