Die neue EU-Kommission muss die Union in Zeiten enormer internationaler Unsicherheiten führen. Was ist aus Ihrer Perspektive die größte Herausforderung?
Christian Wigand: Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Europäische Union derzeit mit großen Herausforderungen konfrontiert ist, wirtschaftlich ebenso wie geopolitisch. Wir müssen massiv in unsere Sicherheit und Verteidigung investieren, wir müssen unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken und gleichzeitig müssen wir in einer neuen Ära des rauen geostrategischen Wettbewerbs bestehen. Aber: Europa hat alle Voraussetzungen, um sich zu behaupten. Wir haben hervorragende, gut ausgebildete Arbeitskräfte. Wir sind die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, ein Binnenmarkt mit 450 Millionen Menschen – und wir haben weltweit ein dichtes Netz von mehr als 40 Handelsabkommen mit 76 Ländern. Wir haben zudem eine leistungsstarke soziale Infrastruktur. Und nicht zuletzt haben wir unabhängige Gerichte und stehen unerschütterlich zum Rechtsstaat. Die Europäische Union ist damit international ein verlässlicher Partner.
Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass wir heftigen Turbulenzen standhalten können – gemeinsam haben wir die Coronapandemie bewältigt, gemeinsam haben wir die von Putin verursachte Energiekrise gemeistert. Und ich bin überzeugt: Wir werden auch an den aktuellen Herausforderungen gemeinsam wachsen.
Wird es im heurigen Jahr ein Ende des Kriegs in der Ukraine geben? Und wenn ja, wie?
Der Krieg kann morgen vorbei sein, wenn Putin seine völkerrechtswidrige Invasion beendet und seine Streitkräfte abzieht. Die Realität ist leider eine andere: Am 24. Februar hat sich der Start von Putins barbarischem Krieg zum dritten Mal gejährt. Aus Sicht der EU ist die Stärkung der Ukraine ein strategischer und moralischer Imperativ. Wie Präsidentin Ursula von der Leyen gesagt hat: „Die Welt blickt auf uns. Unsere Freunde und – mehr noch – unsere Feinde werden ganz genau beobachten, wie wir unsere Unterstützung für die Ukraine weiterführen.“ Und diese Unterstützung ist unumstößlich.
Seit Beginn des Kriegs haben wir die Ukraine mit rund 135 Milliarden Euro unterstützt (Stand Mitte März, Anm.), damit übersteigt die Hilfe der EU jene der USA. Fast 50 Milliarden Euro davon sind in militärische Ausrüstung und Hilfsmaßnahmen geflossen. Und noch nie war unsere militärische Unterstützung für die Ukraine so dringend wie jetzt, wie die EU-Staats- und Regierungschefs beim Sondergipfel am 6. März klargemacht haben. Wir unterstützen einen gerechten und nachhaltigen Frieden für die Ukraine und stellen uns gegen jede Täter-Opfer-Umkehr. Und glasklar ist: Es können keine Verhandlungen über die Ukraine ohne die Ukraine geführt werden. Ebenso kann es keine Verhandlungen, die sich auf die europäische Sicherheit auswirken, ohne die Beteiligung Europas geben.
Gleichzeitig muss und wird Europa nun seine militärischen Kapazitäten massiv ausbauen, auf der Basis des „Rearm Europe“-Plans von Präsidentin von der Leyen.
Mit Donald Trump zurück im Weißen Haus scheint die Zeit des Fokus auf Welthandel vorbei zu sein; die Bedrohung durch Handelskriege ist wieder da. Wie muss die Europäische Union darauf reagieren?
Die Einsätze sind auf beiden Seiten des Atlantiks sehr hoch, es steht da wie dort viel auf dem Spiel. Ein Handelskrieg schadet immer beiden Seiten. Das jährliche Handelsvolumen zwischen der EU und den USA beträgt rund 1,5 Billionen Euro. Täglich überqueren also Waren und Dienstleistungen im Wert von mehr als vier Milliarden Euro den Atlantik. Etwa 3,5 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner arbeiten für europäische Unternehmen in den USA. Die Lieferketten sind eng verzahnt. Ein Flugzeug „made in the US“ enthält etwa Steuerungssysteme und Kohlefasern „made in Europe“. Und amerikanische Medikamente werden mit Chemikalien und Laborwerkzeugen hergestellt, die aus Europa sind. Gleichzeitig importiert Europa doppelt so viele digitale Dienstleistungen aus den USA wie aus dem gesamten asiatisch-pazifischen Raum. Auch rund die Hälfte unseres Flüssiggases kommt aus den USA.
Unsere Priorität muss es also sein, gemeinsame Interessen zu erörtern und Verhandlungsbereitschaft zu zeigen. Wir werden dabei an unseren Grundsätzen festhalten und selbstverständlich unsere Interessen verteidigen. Wenn die Europäische Union unfair oder willkürlich ins Visier genommen wird, wird sie entschlossen antworten.
Auch der Konflikt um Strafzölle auf E-Autos aus China ist aktuell ein Thema. Kann Diplomatie hier zu einer Lösung führen? Wie kann Europa seinen Markt schützen und gleichzeitig international kompetitiv bleiben?
Auch im Dialog mit China sollten wir den gegenseitigen Nutzen im Auge behalten. Natürlich müssen wir auf staatlich geförderte Überkapazitäten reagieren und Maßnahmen ergreifen, um unsere Unternehmen zu schützen. Im Bereich der Elektroautos haben wir nach einer gründlichen Untersuchung verhältnismäßige und gezielte Maßnahmen in Form von Ausgleichszöllen ergriffen. Gleichzeitig sind wir nach wie vor für eine mögliche alternative Lösung offen – unter der Voraussetzung, dass diese die festgestellten Probleme wirksam behebt und mit dem WTO-Regelwerk vereinbar ist. Wir begehen heuer übrigens den 50. Jahrestag der diplomatischen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und China. Das ist eine gute Gelegenheit, unsere Handels- und Investitionsbeziehungen zu vertiefen und in gewissen Bereichen auch auszubauen.
Ganz allgemein gilt: Europa ist und bleibt offen für internationalen Handel. Wir haben Handelsabkommen mit 76 Ländern geschlossen und sind für 72 dieser Länder der größte Handelspartner. Wir gelten als fair und verlässlich. Unsere Abkommen zielen darauf ab, für alle Vorteile zu bringen und eine nachhaltige Wirtschaft in den Partnerländern zu fördern. Wie gesagt: Wir werden weiter offen bleiben. Aber wir sind nicht naiv. Handel kann nicht nur frei sein, er muss auch fair sein.
Vonseiten der Wirtschaft werden oft überschießende Regeln und Bürokratie durch EU-Vorgaben als Hemmnis wahrgenommen. Was kann die Europäische Union hier tun?
Der Bürokratieabbau ist eine Top-Priorität der zweiten Amtszeit von Präsidentin Ursula von der Leyen. Die Europäische Kommission will in einem noch nie da gewesenen Umfang für Vereinfachung sorgen. Im Februar haben wir einen ersten Vorschlag dafür präsentiert: Die Berichtspflichten zur Nachhaltigkeit, zum Lieferkettengesetz und bei der Taxonomie sollen reduziert werden. Weitere Initiativen für andere Branchen werden folgen. Ziel ist, die Berichtspflichten für alle Unternehmen in der EU um 25 % und für Klein- und Mittelunternehmen um 35 % und mehr zu reduzieren. Zudem wollen wir auch 25 % bzw. 35 % des wiederkehrenden Verwaltungsaufwands reduzieren. Die Kommission plant, bis Ende ihres Mandats 2029 Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die für Unternehmen jährliche Einsparungen von mehr als 37 Milliarden Euro bedeuten.
Österreich feiert heuer 30 Jahre Mitgliedschaft in der Union; seit dem Beitritt hat sich sehr viel verändert. Wie sieht die Zukunftsperspektive der Union in einem radikal veränderten internationalen Umfeld aus?
Seit Österreichs EU-Beitritt im Jahr 1995 hat sich in der Tat viel verändert: Wir haben den Euro eingeführt, im Zuge des Vertrags von Lissabon das demokratische Fundament unserer Union gestärkt und sind – nach den Erweiterungsrunden von 2004, 2007 und 2013 – heute eine Union von 27 Mitgliedsländern. Wir sind also – gemäß dem Motto unserer Kampagne zum 30-jährigen Jubiläum – gemeinsam gewachsen. Wir müssen uns jetzt in einer neuen Ära des rauen geostrategischen Wettbewerbs behaupten. Die Union hat immer Wachstumsschübe gemacht, wenn die Herausforderungen besonders groß waren. Es liegt an uns, dass das auch diesmal gelingt. Im Fokus stehen im Moment besonders die Themen Sicherheit und Verteidigung sowie Wettbewerbsfähigkeit. Und auch in den EU-Erweiterungsprozess ist nicht zuletzt durch die geopolitischen Entwicklungen neuer Schwung gekommen. Es liegen also intensive und spannende Jahre vor uns.
Der Letta-Report hat im vergangenen Jahr die Notwendigkeit der Vollendung der Idee des Binnenmarkts betont. Was sind auf dem Weg dorthin die wichtigsten Schritte?
Wir müssen die Hürden abbauen, die Unternehmen daran hindern, zu expandieren und die Vorteile des Binnenmarkts zu nutzen. Ein Problem in diesem Zusammenhang ist, dass Startups, die EU-weit tätig sein möchten, oftmals mit 27 unterschiedlichen Regelungen konfrontiert sind. Deswegen wollen wir für sie einen sogenannten 28. Rechtsrahmen schaffen, der ein einheitliches Regelwerk für die gesamte EU darstellt.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist auch der Kapitalzugang: Der EU fehlt es an einem geeinten Kapitalmarkt, der dazu beiträgt, dass aus Ersparnissen Investitionen in Europa werden. Wie wir in unserem Kompass für die Wettbewerbsfähigkeit Ende Jänner angekündigt haben, wird die Europäische Kommission eine europäische Spar- und Investitionsunion vorschlagen. Ziel ist es, neue Spar- und Anlageprodukte sowie Anreize für Risikokapital zu schaffen und sicherzustellen, dass Investitionen in der gesamten EU nahtlos möglich sind.
Politisch wird ein einstimmiges Vorgehen der Staaten der EU immer schwieriger. Ist die Union momentan so adaptiv, wie sie sein müsste?
In bestimmten wenigen Bereichen gilt in der EU das Einstimmigkeitsprinzip, zum Beispiel bei der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten, dem mehrjährigen Finanzrahmen, bei Sanktionen gegen Drittstaaten und in der Steuerpolitik. Und ja, manchmal führt das dazu, dass einzelne Staaten einen Beschluss blockieren beziehungsweise verzögern können. Aber das passiert viel seltener, als es die öffentliche Debatte vermuten lässt. Bereits jetzt sind 80 bis 90 % der Entscheidungen in der EU Mehrheitsentscheidungen, sie werden also mit der sogenannten qualifizierten Mehrheit getroffen. Die EU ist also beschluss- und handlungsfähig. Aber wie Präsidentin Ursula von der Leyen im Juni 2024 anlässlich ihrer Wiederwahl angekündigt hat, wird es – auch vor dem Hintergrund kommender Erweiterungen – Reformen in der EU bedürfen.
Was wünschen Sie sich für die nächsten Jahre bezüglich Fortschritten in der Union?
Ich hoffe, dass es uns wie geplant gelingt, Bürokratie abzubauen und den Fokus wieder auf die großen Herausforderungen zu richten: Wettbewerbsfähigkeit, Sicherheit, Verteidigung, digitale Transformation, Klimaschutz. Diese Herausforderungen sind von einer so großen Dimension, dass kein einziger europäischer Staat sie allein bewältigen kann; gleichzeitig sind unsere Chancen zu groß, um allein ergriffen zu werden. Europa macht uns stark. Und wir müssen Europa stärken, indem wir das Gemeinsame vor das Trennende stellen und unsere Europäische Union gestalten. Viel zu oft wird von der EU wie von einem fremden Wesen gesprochen, das ohne unser Zutun Gesetze produziert. Dabei werden EU-Rechtsnormen von den Mitgliedstaaten und dem direkt gewählten Europäischen Parlament beschlossen. Ich wünsche mir, dass ein stärkeres Bewusstsein dafür wächst, dass wir alle die EU sind.
Zur Person
Christian Wigand war seit September 2024 interimistischer Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich und ist seit Februar stellvertretender Leiter. Er war in der Kommission unter Präsident Jean-Claude Juncker und unter Präsidentin Ursula von der Leyen als Sprecher tätig. Vor seinem Wechsel nach Brüssel war Wigand in Wien unter anderem Sprecher im Justizministerium. Der gebürtige Grazer hat Theologie und internationale Beziehungen studiert und ist Absolvent der Diplomatischen Akademie Wien.